Weihnachts-Kletterer

Da kletterten sie hoch. Um den ersten Advent herum. Um ja auch gesehen zu werden. Ich schreibe von Weihnachtsmännern. Ich entdeckte sie an der Fassade eines finnischen Kaufhauses, das in Tallinn/Estland steht. Oben an einer nackten Wand. Noch nie sah ich Fassadenkletterer. Geschweige in Nikolausuniform. (Sehe ich einmal ab von der Nikolaus-Puppe oben an der Ebstorfer Ratsapotheke einige tausend Meilen weg.) Während ich da unten alleine stand und staunte und mein Nacken steif wurde, waren die da oben zu Viert. Sie zogen und schoben sich gegenseitig hoch oder nach, überholten einander, fielen ab, holten auf...Schwerarbeit, bei der die da oben schwitzen dürften, während ich unten bei 10 Grad fror. Russland ist nah. Mich erinnerte die weihnachtliche Schwerarbeit der vier Kletterkünstler an die Schwerarbeit von Leuten wie Tante Ulrike vor dem Fest. 30 bis 40 Päckchen packt sie weihnachtlich. Früher für die Schwestern und Brüder in die DDR, jetzt für Patenkinder in Afrika, Brasilien, Indien. Tante Ulrike wäre bewunderns- und nachahmenswert. Wenn sie nicht bloß ständig wegen dieser Päckchen ebenso leise wie dauerhaft stöhnte und für keine kleine Stollenrunde mehr Zeit zu haben scheint. Und wenn - dann mit mahnend schlechtem Gewissen, mit dem sie früher aufsteht und weiter arbeiten muss für das Christkind". Ich nahm die vier Weihnachtskletterer als Warnung, als Hilfe: So wie die werde ich einen Teufel tun, mich anzustrengen. Bzw. nicht wie Teufel, sondern wie das Christkind tun und auf mich zukommen zu lassen versuchen, was da so zum Feiern kommt. Lass die da klettern und für ihren Umsatz Sorge haben - ich hole mir die Flöte hervor und versuche Christine rumzukriegen am Klavier. „Immer dieselben," sagte Ria, meine estnische Übersetzerin am nächsten Tag, als ich ihr von den roten Kletterern erzählte. „Wir haben noch keine gute westliche Weihnachts-Werbung. In Schweden klettern echte Kletterer...". Dann klärte Ria mich auf, dass die Vier gestern Abend große elektronisch gesteuerte Marionetten waren. Überhaupt Ria und ihre Christfestvorbereitung. Ria macht am 6.12. Nikolaustag, dasselbe, was die Äbte in den alten Klosterschulen jeweils am 6.12. taten: Eine Konferenz abhalten, bei der jeder seine Meinung sagen darf. Ria holt die Meinungen ihrer Familienmitglieder zu Festwünschen ein und alle sagen, wie sie sich Heiligabend und die Festtage wünschen. Nein, nicht Geschenke. Geld gibt's sowieso weniger, dafür vielleicht mehr Weihnachten. Jede/r zwischen 3 und 100, also sprechfähig, soll bei Ria in der Nikolaustagkonferenz aussprechen, was sie oder er mag, was nicht - und wie daraus ein Abend und Tage gestaltet werden können, die für jeden etwas bringen. Für sich selbst weiß Ria schon, was sie will: 30 Minuten Zeit zum Alleinsein, für Postlesen und Buchanlesen und CD anhören. 30 Minuten täglich. Dafür spielt sie mit uns dann neue Spiele, alte Lieder...Auch wenn meine vier Weihnachtskletterer an der Fassade reine Fassade waren - danke für die Lehre, Ihr Vier da oben. Und frohe Festvorbereitung und- freuden denen, die auf Weihnachten hinarbeiten", indem sie noch selbst über dessen Vorbereitungsfassaden klettern müssen.

2. Dezember 2003